Wo fange ich an?
Vor etwa 12 Jahren stellte ich mir diese Frage, als ich meinen ersten Auftrag für ein chinesisches Unternehmen erhielt. Es ging um die Gestaltung einer Immobilien-Webseite mit einem Content-Management-System. Naiv reichte ich einen Low-Fidelity-Prototyp ein, überzeugt, das richtige Design gefunden zu haben. Doch die ernüchternde Antwort kam prompt: So sahen chinesische Webseiten nicht aus.
Die Beispiele, die ich zurückbekam, waren geprägt von einer Fülle an Informationen – zu viel für meinen Geschmack. Doch in China scheint man eine andere Auffassung von Ästhetik zu haben. Ich fragte mich, ob chinesische mobile Apps, wie WeChat, vielleicht minimalistischer sind. Doch auch hier lag ich falsch: WeChat integriert alle möglichen Funktionen, von Messaging über soziale Medien bis hin zu Zahlungen, und wirkt dabei alles andere als schlank.
Die zentrale Frage bleibt: Warum ist das so? Liegt es an einem unterschiedlichen Verständnis von Ästhetik oder vielleicht sogar an den kulturellen Unterschieden zwischen Ost und West? In den letzten Jahren habe ich viele Diskussionen in Foren und sozialen Medien verfolgt, in denen Entwickler betonen, dass Produkte für den asiatischen Markt weniger einfach und informationsarm, sondern eher informationsreich und dicht gestaltet sein müssen. Der Grund? Kulturelle Unterschiede.
Ein weiterer Aspekt, den ich nicht ignorieren kann, ist das Phänomen des “Leapfrogging”. China hat in der Vergangenheit einen Entwicklungsprozess übersprungen, der im Westen üblich war – den des PCs. Stattdessen kam der Aufstieg von Smartphones schneller. Viele Entwickler und Designer haben ihre Karriere mit der Gestaltung mobiler Anwendungen begonnen, die oft auf vertikales Scrollen ausgelegt sind. Diese Entwicklung spiegelt sich in der Informationsarchitektur wider, die wir heute auf vielen chinesischen Webseiten und Apps sehen.
Wenn wir uns ältere westliche Webseiten aus den 90ern und frühen 2000ern ansehen, finden wir ähnliche Überladungen an Informationen. Auch große Plattformen wie Amazon sind in diesem Aspekt nicht ganz unschuldig – sie haben sich nie ganz von dieser überladenen Informationsarchitektur gelöst.
Die Nielsen Norman Group hat 2016 festgestellt, dass chinesische Nutzer im Allgemeinen informationsreiche Designs bevorzugen, während westliche Nutzer minimalistischen Oberflächen den Vorzug geben. Dies hat tiefere kulturelle Wurzeln, in denen Details oft mit Vertrauenswürdigkeit assoziiert werden. Tatsächlich habe ich in meiner eigenen Usability-Studie herausgefunden, dass Webseiten, die zu minimalistisch gestaltet sind, als wenig vertrauenswürdig wahrgenommen werden.
Zudem zeigt meine Untersuchung, dass viele chinesische Webseiten unter spezifischen Usability-Problemen leiden. Beispiele sind schlecht platzierte Suchfelder oder eine unklare Navigation, die den Nutzern das Finden relevanter Informationen erschwert. Ein typisches Feedback von Nutzern war, dass die Webseiten oft mit irrelevanten Inhalten überladen sind, was die Benutzererfahrung beeinträchtigt.
Aber ist das Design chinesischer Webseiten heute immer noch so überladen? Die Antwort ist sowohl ja als auch nein. Wenn wir uns WeChat anschauen oder die aktuellen Regierungsseiten Chinas, sehen wir, dass sich auch hier das Design verbessert hat. Das, was wir oft als „westliches Design“ bezeichnen, ist eigentlich nutzerzentriertes Design – ein Ansatz, der überall auf der Welt an Bedeutung gewinnt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Unterschiede im Design chinesischer Webseiten und Software nicht nur auf kulturelle Vorlieben zurückzuführen sind, sondern auch auf historische und technologische Entwicklungen. Der Dialog zwischen Ost und West zeigt, dass wir voneinander lernen können, um die Benutzererfahrung in digitalen Räumen zu verbessern.
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